Eigentlich gelten wir Deutschen doch als Volk der Meckerer, Nörgler und Beschwerdeführer. Wenn es also – wie wissenschaftlich erwiesen – wirklich gesünder ist, seinen Gefühlen Luft zu machen, wieso zeugen besorgniserregende Bluthochdruck-Statistiken und hohe Fehlzeiten aufgrund stressbedingter Krankheitssymptome an deutschen Arbeitsplätzen von unterdrückter Wut und aufgestauter Aggression?
Motiviert und angestoßen durch „negative“ Gefühle (sprich: Gedanken!) bedient sich mancher gelegentlich eines aggressives Verhaltens, um den angestauten Emotionen Luft zu verschaffen. Aggression (lat. aggredi = angreifen, etwas in Angriff nehmen) ist eines in Tier wie Mensch verankertes Ur-Verhaltensmuster. Aus archaischen Teilen unsere Reptilienhirns kommt der Impuls, der unserem Gegenüber zunächst „Bis hierher und nicht weiter!“ signalisiert. Mit dieser Kraft verteidigen wir unser Leben, unser Revier und stellen neue Kräfte und Ressourcen zur Verfügung. Der Körper produziert u.a. Adrenalin und erhöht neben der Kampfbereitschaft auch die Konzentrationsbereitschaft, Reaktionsgeschwindigkeit und steigert die analytischen Fähigkeiten. Aggression schafft Raum für Kreativität und schafft Lösungsansätze. Kennen Sie nicht auch den „Jetzt erst recht“- oder „Dem/der werde ich es zeigen“-Effekt, der uns plötzlich zu Leistungen antreibt, die wir bisher nur erahnen konnten? Nutzen wir die Aggression positiv, ist sie eine vorwärtsdrängende Kraft, die uns hilft, uns weiter zu entwickeln, Kräfte zu bündeln und Ziele zu erreichen.
Lang anhaltendes Unterdrücken von Aggressionen wirkt sich nachweislich auf die körperliche und psychische Gesundheit aus. Interessant ist dabei, dass die Depression mit ihrer im Außen sehr reduzierten Reaktions- und Aktionsspanne gerne auch als „nach innen gerichtete Aggression“ interpretiert wird. Ich möchte hier keine laufenden Diskussionen zwischen medizinisch-wissenschaftlichen, therapeutischen oder esoterischen Grundsätzen weiter entzünden, sondern nur darauf hinweisen: Es könnten zwei Seiten ein und derselben Medaille sein.
Ein gutes Beispiel von positiv eingesetzter Aggression konnte man sehen, wenn Sie unsere Bobfahrer bei den vergangenen olympischen Winterspielen vor dem Start beobachtet haben: mit lauten Schreien und bis zum Platzen angespannten Muskeln haben Sie das Aggressionslevel im Körper erhöht, um ihrem Gefährt einen mächtigen Schub nach vorne geben zu können. Überhaupt scheint der Leistungssport das Aggressionsprinzip als motivatorisches Element verstanden zu haben. Laute Anforderungsschreie der Fans unterstützen den Sportler, die geballte Faust konzentriert innere Kraft.
Aggression setzt – sofern denn mal freigelassen – nicht nur Energie frei, es macht es auch möglich, die Ursache sichtbar und behandelbar zu machen. Ein Thema, Problem ein Hindernis ist jetzt nicht mehr nur im Verborgenen, sondern jetzt offenkundig. Einmal ausgesprochen kann es angesprochen, diskutiert, einer Lösung zugeführt werden. Tiefer liegende Themen können erkannt werden:
- Lebe und arbeite ich meinen Bedürfnissen entsprechend?
- Inwieweit lasse ich mich von außen bestimmen, statt „mein“ Leben zu leben?
- Gebe ich meinen Energien und Belangen ausreichend Raum oder ordne ich sie mehrheitlich den Regeln und Vorgaben von außen unter?
- Steuern Kontrollwünsche oder Vertrauen mein Handeln und Denken?
- Wie offen bin ich Veränderungen gegenüber?
etc.
Sind wir mal ehrlich. Im Prinzip sind wir permanent bemüht, unseren Ärger entweder zu verbergen oder runterzuschlucken oder gerne auch beides. Aggressive Menschen beäugen wir eher skeptisch. Zugegeben: für das tägliche zwischenmenschliche Zusammenleben ist es sicherlich auch weiterhin förderlich, Aggression in gemäßigte Bahnen lenken zu wollen. Insbesondere angesichts von Statistiken, die auf eine deutliche Zunahme der Aggressionsbereitschaft bei Schülern und Jugendlichen hinweisen, sind Bemühungen, diese Art von Verhalten zu zivilisieren, mehr als sinnvoll. Aber was heißt in diesem Zusammenhang „zivilisieren“?
Ist Aggression männlich?
Aggressives Verhalten ist nicht wirklich „chic“, aber den Männern sehen wir ein tendenziell aggressives Auftreten, forsches Dazwischenreden oder ein lautes Wort gerne das eine oder andere Mal nach. Schließlich muss einer ja mal auf den Tisch hauen, oder? Bei Frauen sind wir da schon eher geschockt. Irgendwie scheinen das weibliche Geschlecht und die Aggression in unserem Wertesystem nicht wirklich zusammen gehören zu wollen.
Um das Grundwirken der Aggression nachvollziehen zu können, bitte ich Sie ganz kurz zu einem Exkurs: In Anlehnung an die Analytischen Psychologie von C.G. Jung lernen wir, dass jeder unbewusste Persönlichkeitsanteile des jeweils anderen Geschlechts in sich trägt. Jung nennt sie „Animus“ und „Anima“. Während Anima (lat. u.a. Atem, „Seele“, Leben) die „weibliche Seite“ im psychischen Apparat darstellt, bezeichnet Animus (lat. u.a. Mut, Selbstvertrauen, Leidenschaft, Entschluss) die männliche. Die Aggression als Grundprinzip ist damit „männlich“.
Es wäre jetzt allerdings fatal, davon auszugehen, dass Frauen nicht aggressiv sein können oder sollen. Sollten sie schon – im positiven Sinne. Wenn Aggression eine Kraft ist, die uns hilft, Dinge anzupacken, anzutreiben, umzusetzen, ist sie in dieser Funktion geschlechterübergreifend sinnvoll. Im Gegenteil – etwas mehr Mut zur „Vorwärts-Power“ wünscht sich manche Geschlechtsgenossin.
Aggression setzt Energie frei – Aktionsenergie. Aggression ist eine mächtige, im Idealfall vorantreibende Kraft. Aggression als Urprinzip wirkt nach vorne, drängt vorwärts, bringt wie bei der Geburt eines Menschen neues Leben ans Tageslicht. Im besten Falle. Wird Aggression aber fehlgeleitet, unterdrückt und gedeckelt, köchelt sie unterirdisch und sucht sich einen anderen Kanal. Meistens explosionsartig – vergleichbar mit einem Vulkanausbruch, der Verwüstung hinterlässt. Aggression ist vom Urprinzip her nicht zwingend zerstörerisch. Erst unsere verzerrte Bewertung und die mangelnde Fähigkeit, Aggression zielgerichtet und kanalisiert auszuleben und einzusetzen, verursacht flächendeckende Schäden, im Extremfall körperliche und psychische Gewalt den vermeintlich Schwächeren gegenüber.
Dabei übersehen wir gelegentlich, dass Wut und Aggression auch ein gutes Zeichen sein könnten: wir leben noch! Wir sind keine Zombies! Wir zeigen – wenn auch für die Außenwelt nicht einfach zu deuten – Engagement und Motivation für eine Sache. Daher, liebe Vorgesetzte, liebe Ehe- und Lebenspartner, liebe Eltern pubertierender und nicht-pubertierender Kinder: so lange noch gemeckert, gemotzt und rebelliert wird, gibt es noch Hoffnung, ist noch eine innere Bereitschaft zur Mitwirkung da!
So veröffentlicht in Heft 3/2014 der Zeitschrift „Coach!n“.